Der
Ruf Gottes
„Folge mir
nach“ (Mt 9,9)
Liebe
Mitchristen!
In den vier
Evangelien wird uns über die Berufung der Jünger erzählt. Jesus spricht sie
einzeln an. So berichtet Markus: „Als Jesus am See von Galiläa entlang ging,
sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihr Netz
auswarfen; sie waren nämlich Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, folgt
mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Sogleich ließen sie ihre
Netze liegen und folgten ihm. Als er ein Stück weiterging, sah er Jakobus, den
Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes; sie waren im Boot und richteten
ihre Netze her. Sofort rief er sie, und sie ließen ihren Vater Zebedäus mit
seinen Tagelöhnern im Boot zurück und folgten Jesus nach“ (Mk 1,16-20).
1. Er spricht jeden an
Er geht auch
heute durch die Straßen unserer Zeit und bleibt bei diesem und jenem stehen. Im
II. Vatikanischen Konzil wurde gerade das bewusst
gemacht, dass er bei jedem Getauften und Gefirmten stehen bleibt und ihn
anspricht.
In der dogmatischen Konstitution über die Kirche heißt es: „Der Herr Jesus,
göttlicher Lehrer und Urbild jeder Vollkommenheit, hat die Heiligkeit des
Lebens, deren Urheber und Vollender er selbst ist, allen und jedem einzelnen
seiner Jünger in jedweden Lebensverhältnissen gepredigt: ‘Seid also vollkommen,
wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist’ (Mt 5, 48). Allen hat er den Hl.
Geist gesandt, dass er sie innerlich bewege, Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer
Seele, aus ganzem Gemüt und aus ganzer Kraft zu lieben (vgl
Mk 12, 30), und einander zu lieben, wie Christus sie geliebt hat (vgl Joh 13, 34; 15, 12)“ (LG 40).
Es besteht die Gefahr, dass wir diese Aussagen deshalb, weil sie allgemein
gehalten sind und sehr gehoben klingen, nicht wirklich auf unser eigenes Leben
anwenden und keine konkreten Folgerungen aus ihnen ziehen. Welcher Ruf ist an
uns gerichtet?
Dazu sind zunächst einige grundsätzliche Erwägungen erforderlich, die zwar
wahrscheinlich allen bekannt sind, aber oft zuwenig
mit dem eigenen Leben in Zusammenhang gebracht werden.
1.1. Der Ruf
Gottes, der an jeden Menschen gerichtet ist
Im ersten
Punkt des Katechismus der Katholischen Kirche heißt es: „Gott ist in sich
unendlich vollkommen und glücklich. In einem aus reiner Güte gefassten Ratschluss
hat er den Menschen aus freiem Willen erschaffen, damit dieser an seinem
glückseligen Leben teilhabe. Deswegen ist er dem Menschen jederzeit und überall
nahe. Er ruft ihn und hilft ihm, ihn zu suchen, ihn zu erkennen und ihn mit all
seinen Kräften zu lieben“ (KKK 1). Von Gott berufen bzw. gerufen zu sein,
gehört zur Wesensbestimmung des Menschen, denn Gott, dessen Wesen die Liebe
ist, hat den Menschen aus Liebe erschaffen und zwar als sein Abbild (Gen 1,
27). Er hat ihn als Mann und Frau erschaffen und zur Liebe bestimmt. Liebe ist
„die angeborene, grundlegende Berufung des Menschen“ (KKK 1604).
Um in unseren Überlegungen realistisch zu sein, müssen wir freilich bedenken:
Der Mensch hat gesündigt und sündigt immer wieder. Dadurch ist seine Verbundenheit
mit Gott gestört, oft zerbrochen; seine Liebe degeneriert - wenn er nicht den
richtigen Weg findet - in ungeordnete Selbstliebe, er verschließt sich vor Gott
und den anderen. Er isoliert sich, wird einsam und nicht selten verbittert.
Durch Christus und die von ihm erwirkte Erlösung wurde dem Menschen ein Weg
eröffnet, der zum Vater führt. Christus ist der Weg. Kurz zusammengefasst
dargestellt: Die Taufe vermittelt die Grundlage, um trotz Erbsünde und
persönlicher Sünden dem entsprechen zu können, wozu der Mensch da ist. Im
Katechismus der Katholischen Kirche heißt es: „Die hl. Taufe ist die Grundlage
des ganzen christlichen Lebens, das Eingangstor zum Leben im Geiste (Vitae Spiritualis ianua) und zu den
anderen Sakramenten. Durch die Taufe werden wir von der Sünde befreit und als
Söhne Gottes wiedergeboren; wir werden Glieder Christi, in die Kirche
eingeführt und an ihrer Sendung beteiligt: die Taufe ist das Sakrament der
Wiedergeburt durch das Wasser im Wort“ (KKK 1213).
Durch die Taufe wird die Verbundenheit mit Gott durch Christus begründet. Beim
Erwachsenen setzt dies den Glauben und die Entschlossenheit zu einer
christlichen Lebensgestaltung voraus. Bei gröberem Fehlverhalten und Verlust
der inneren Verbindung mit Gott muss die Taufe durch Umkehr und Empfang des
Bußsakramentes erneuert werden. Kinder müssen die Inhalte und Anforderungen des
Glaubens kennen und in den praktischen Alltag umsetzen lernen, um der
christlichen Berufung zu entsprechen. Die Firmung befestigt und bestärkt die in
der Taufe und durch die religiöse Erziehung grundgelegte Lebensweise durch
Verleihung des Hl. Geistes und seiner Gaben, um in den verschiedenen
Situationen des Lebens den Weg finden und gehen zu können. Schon die Taufe
befähigt zur Eucharistie, zur Vereinigung mit Christus, dem Erlöser, der sein
Leben am Kreuz zur Rettung der Menschen dargebracht hat und nach drei Tagen
auferstanden ist. Er wird unter den Gestalten von Brot und Wein gegenwärtig.
Taufe, Firmung und Eucharistie vermitteln also die Grundlage der christlichen
Berufung, die allen zuteil wird, die diese Sakramente
empfangen, wenn sie zugleich sein Wort aufnehmen und um Umsetzung dieses Wortes
ehrlich bemüht sind. Wir erhalten dadurch das Rüstzeug und die Voraussetzung,
um am Leben Christi und am Leben seines Leibes, der Kirche, aktiv teilzunehmen,
Christus im Herzen zu tragen, selbst den Weg zu finden, der zum Ziel führt, zum
eigentlichen und endgültigen Ziel des Lebens. Christen erhalten dadurch
zugleich den Auftrag, auch anderen dabei zu helfen. Die mit der Taufe
grundgelegte Berufung und die mit ihr verknüpfte Anforderung ein
ernsthaftes Streben nach christlichem Leben - ist allen Christen gemeinsam,
Priestern, Ordensleuten und Laien, Verheirateten- und Unverheirateten. Darin
gründet die Verpflichtung, von der niemand ausgenommen ist, danach zu
verlangen, in der Beziehung zu Gott und den anderen reifer zu werden, sowie in
der eigenen Persönlichkeitsentwicklung fortzuschreiten. Oder mit Worten des II.
Vatikanums: „Alle Christgläubigen sind also zum
Streben nach Heiligkeit und ihrem Stand entsprechender Vollkommenheit
eingeladen und verpflichtet“ (LG 42). Die Frage ist, inwieweit uns dies konkret
bewusst ist und inwieweit wir konkret darum bemüht sind. Hören wir das Rufen
Gottes und nehmen wir es ernst?
1.2. Der
individuelle Aspekt
Matthäus,
Markus und Lukas erzählen, dass sich einmal ein junger Mann mit der Frage Jesus
genähert hat: „Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu
gewinnen?“ (Mk 10,17). Jesus gab zur Antwort: „Warum nennst du mich gut?
Niemand ist gut außer Gott, dem Einen.“ Dann fügte er hinzu: „Du kennst doch
die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst
nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen;
ehre deinen Vater und deine Mutter!“ Als darauf der junge Mann sagte, er habe
alle diese Gebote von Jugend an beachtet, schaute ihn Jesus liebevoll an und
forderte ihn auf: „Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das
Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm
und folge mir nach!“, worauf der junge Mann traurig wegging, weil er ein großes
Vermögen hatte (vgl Mk 10, 17-22).
Im Evangelium finden sich mehrere Berichte über besondere Berufungen. Beim
jungen Mann war sie verbunden mit der Aufforderung, alles zu verkaufen, anderen
wurde gesagt, sie sollten Beruf und Familie verlassen. Die besondere Berufung
ist mit einer besonderen Aufgabe verknüpft. Die wichtigste Berufungsgeschichte
ist jene der zwölf Apostel. Sie werden zu den Grundpfeilern der Kirche. Sie
werden in seinem Namen handeln, ihn vergegenwärtigen und seine besonders
autorisierten Zeugen sein. Es wird auch von der Aussendung der 72 Jünger
erzählt, die seine Ankunft in den Gemeinden vorbereiten, Kranke heilen, Dämonen
austreiben und das Anbrechen des Gottesreiches ankündigen sollen. Von Anfang an
sind auch Frauen unter jenen, die eine besondere Berufung empfangen. Der hl.
Paulus spricht von einer Vielfalt von Gnadengaben und Diensten (vgl 1 Kor 12, 1-11). Nicht alle empfangen die gleiche
spezifische Berufung. Gerade so wird der Leib Christi auferbaut.
Worin kann diese persönliche Berufung auf unsere Zeit angewandt bestehen? Wie
erkennen wir sie?
Hier, im Rahmen dieser bescheidenen Schrift, können nur einige wenige Grundzüge
aufgezeigt werden. Im nachsynodalen Schreiben „Pastores dabo
vobis“ wird Berufung so umschrieben: „Die Berufung
ist gewiss ein unerforschliches Geheimnis, das die Beziehung mit einschließt,
die Gott zum Menschen und seiner Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit
herstellt, ein Geheimnis, das als ein Anruf wahrgenommen und empfunden wird,
der im Inneren des Gewissens, in jenem „Heiligtum“ im Menschen, wo er allein
ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist, eine
Antwort erwartet“ (38).
Berufung ist etwas Persönliches, nicht Übertragbares, sie hat aber immer auch
eine kirchlich-gemeinschaftliche Dimension. Sie dient der Auferbauung
des Leibes Christi. Sie kann sehr verschieden sein. Das II. Vatikanische Konzil
hat neben der Hingabe an Gott und sein Volk in den verschiedenen hierarchischen
Ämtern und im Ordensstand insbesondere die Berufung der Eheleute und die
Bedeutung des Einsatzes der Laien in der Welt hervorgehoben. Letztere haben
verbunden mit ihren persönlichen Aufgaben in Beruf und Gesellschaft ebenfalls
eine besondere Berufung, in der sie eigentlich unersetzbar sind.
Wenn wir die Aussagen des II. Vatikanischen Konzils konsequent durchdenken,
gelangen wir zur Erkenntnis, dass die Berufung des einzelnen sehr
unterschiedlich sein kann - Berufung zu Zölibat oder Ehe, zum Priester, zu
einem Orden oder als Laie mit bestimmten Aufgaben in den eigenen Umständen -,
dass wir aber auch diesbezüglich davon ausgehen dürfen, dass jeder angesprochen
ist. Unser Lebensziel ist damit untrennbar verknüpft, unsere persönliche
Berufung zu erkennen und ihr mit Gottes Hilfe zu entsprechen.
Um uns dessen bewußt zu werden, dass der Ruf Gottes
nicht nur in bestimmten Sternstunden des Lebens an uns gerichtet ist, sondern
eigentlich in jedem Augenblick, auch jetzt, müssen wir aber noch ein weiteres
bedenken.
2. Der Ruf Gottes -
nicht nur ein einmaliges Ereignis
Immer wieder
tritt Christus an uns heran und spricht uns an. Die
Überlieferung berichtet, dass dem Petrus, als er Rom verlassen wollte, der Herr
begegnet sei und ihm gesagt habe: „Quo vadis“ - wohin
gehst du? Darauf hin soll Petrus wieder nach Rom
zurückgekehrt sein. Er war Gefahr gelaufen, dem Ruf Gottes auszuweichen. Gottes
Ruf begleitet uns. In allen Situationen müssen wir ihn hören. Gerade so sind wir
treu. Das schließt auch die Tatsache ein, dass wir mitunter Fehler begehen und
unsere Haltung immer wieder korrigieren, sobald uns unser Fehler bewusst wird.
In einer Ehe entsteht Treue nur dann, wenn das Eheversprechen in vielen
Situationen und Umständen des Lebens erneuert wird. So kommt es zur Erprobung
der Liebe, zu ihrer Läuterung und Vertiefung. Das gleiche gilt für jede andere
Art der Berufung. Deshalb bleibt die Frage der Berufung das ganze Leben lang
etwas, das immer und für jeden wichtig ist. Wie entspreche ich meiner Berufung
- in der Ehe, als Vater oder Mutter, als Ehegatte oder Ehegattin, als Priester,
als Ordensfrau oder Ordensmann, als Laie, der/die sich in besonderer Weise
diesem oder jenem Anliegen gewidmet hat? Insbesondere beim Laien ist der Beruf
Bestandteil der Berufung; alle Aufgaben, die wir uns nicht selbst erfinden,
haben auch im Hinblick auf Gott und unser ewiges Leben ihre Bedeutung. Ein
Student, der nicht studiert, ist nicht nur kein guter Student, sondern auch
kein guter Christ, weil er die gottgewollte Pflicht nicht wahrnimmt. Dasselbe
ist in abgewandelter Form von allen unseren Aufgaben zu sagen, sofern es
„wahre“ Aufgaben sind. Unsere Berufung betrifft unser Leben in seiner
Gesamtheit, zugleich unser Bemühen im konkreten Alltag im Wechsel der
Situationen und Aufgaben. Unsere Fähigkeiten und Schwächen, auch die
Fähigkeiten und Schwächen der anderen, die an unserer Seite sind, gehören zu
den „Rahmenbedingungen“, in denen Gottes Ruf an uns ergeht: So wie wir sind,
sollen wir uns bemühen, besser zu werden und treu zu sein. Die Berufung ist mit
einem Tag für Tag erforderlichen Streben verbunden, wobei wir alle selbst
erfahren müssen, dass auch der Gerechte siebenmal am Tag fällt und wieder
aufsteht (Spr 24, 16). Gerade deshalb muss unser
Bemühen beharrlich und mit beständiger Bereitschaft zur Umkehr verbunden sein,
wenn wir unserer Berufung entsprechen wollen. Augustinus sagte einmal: „Wenn du
sagst: es ist genug, dann bist du verloren“. Gottes Ruf ergeht im Grunde
genommen in jedem Augenblick an uns. Treu sind wir dann, wenn wir uns bemühen,
ihm immer wieder zu entsprechen.
3. Das „Nein“ zur
Berufung und das Scheitern
Vom reichen
Jüngling lasen wir: „Er aber ging traurig weg.“ Die Gründe können verschiedener
Art sein, warum das Ja zur Berufung schwerfällt oder nicht gelingt:
3.1. Angst vor
der Entscheidung
Zu allen
Zeiten sind den Menschen Entscheidungen schwer gefallen, die wesentliche
Weichenstellungen für das weitere Leben darstellen. Sogar die großen Propheten
des Alten Bundes empfanden in Hinblick auf die hohen Anforderungen der
empfangenen Berufung Angst. Jesaja ruft aus: „Weh mir, ich bin verloren. Denn
ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und lebe mitten in einem Volk mit unreinen
Lippen“ (Jes 6, 5) und Jeremias klagt: „Ach, mein Gott und Herr, ich kann doch
nicht reden, ich bin ja noch so jung“ (Jer 1, 6). In
unserer Zeit scheint es vielen besonders schwer zu fallen, sich zu einem
endgültigen Ja zu einer möglichen Berufung durchzuringen. Dies zeigt sich
sowohl in Zusammenhang mit einer ins Auge gefassten Familiengründung als auch
in der Frage der Eingliederung in eine religiöse Gemeinschaft bzw. der
Entscheidung, Priester zu werden. Eine große Rolle spielen dabei wahrscheinlich
auch die häufig vorkommenden Ehescheidungen und die weit verbreitete,
vielschichtige Verunsicherung. Viele haben Angst zu scheitern, daher auch den
Wunsch, vor der endgültigen Entscheidung länger zu „probieren“. Sicherlich ist
es erforderlich, die „Berufung“ zu prüfen: ein junges Paar, das ans Heiraten denkt,
wird gut daran tun zu schauen, ob ihre Liebe echt ist, ob sie zusammenpassen,
ob sie sich verstehen und vertragen, gemeinsame Interessen haben und ob ihre
Vorstellungen bezüglich Ehe und Familie, zur Zahl der Kinder und ihrer
Erziehung im Wesentlichen übereinstimmen. Auch beim Ja zur Berufung auf einen
Weg totaler Hingabe an Gott und seinen Dienst sind reifliche Überlegung und
gründliche Prüfung - auch durch andere - unerlässlich.
Heute steht meines Erachtens vor allem bei der Entscheidung bezüglich Ehe, aber
auch im Religiösen oft zu sehr das emotionale Element im Vordergrund. Emotionen
können aber rasch wechseln und erweisen sich nicht als tragfähig, wenn sie die
einzige Grundlage der Entscheidung für einen bestimmten Lebensweg sind. Wenig
beachtet wird, dass eine Lebensentscheidung insbesondere Vertrauen voraussetzt:
vor allem Vertrauen in Gott, der uns sein Licht schenkt und uns beisteht, aber
auch Vertrauen in den anderen, den wir kennen und der uns kennt, sowie ein
gesundes Vertrauen in sich selbst.
Eine „Probeehe“ ist aber nicht möglich. Viele leben heute zwar vor der Ehe mehr
oder weniger lange zusammen und führen ein eheähnliches Leben, aber einerseits
fehlen ihnen die Voraussetzungen für eine Entscheidung, weil sie sich noch
nicht genügend kennen oder weil sie sich ihrer Entscheidung nicht sicher sind,
andererseits wird durch das verfrühte Zusammenleben ohne die nötigen
Voraussetzungen die Entscheidung eher schwieriger, denn es ist dann weniger
leicht, sich frei zu entscheiden: es entstehen tiefe Wunden, wenn die Beziehung
gelöst wird; noch komplexer wird die Situation, wenn aus der Verbindung ein
Kind hervorgeht. Der richtige Weg wäre: zuerst sich gut kennen lernen und alle
Aspekte, die wichtig sind, bedenken. Erst dann, wenn die Entscheidung füreinander
sicher und endgültig, wenn sie durch das gegenseitige Ja-Wort vor dem Altar
besiegelt ist, besteht die Grundlage für den gemeinsamen Lebensweg. Das
Eingehen der Bindung durch die Trauung ist unverzichtbarer Ausdruck der Tiefe
einer Liebe und Voraussetzung ihrer Entfaltung. Zugleich ist sie wichtiger
Schutz der Person (der Eheleute und der Kinder).
Auch beim Ja zu einer Berufung auf einen Weg der Ganzhingabe an Gott ist das
Eingehen der Bindung wichtig. Hier ist nach eingehender Prüfung vorgesehen,
dass zunächst eine zeitlich begrenzte und erst nach mehreren Jahren eine
endgültige Bindung eingegangen wird. Aber auch hier gilt: ohne Eingehen der
Bindung ist eine Reifung nicht möglich.
3.2. Zu rasche
Entmutigung bei Schwierigkeiten
In unserer
Zeit werfen viele sowohl in Bereichen der Hingabe an Gott als auch in der Ehe
bei Auftreten von Schwierigkeiten viel zu rasch die Flinte ins Korn und
übersehen, dass jede Liebe gerade dadurch reift, dass in Schwierigkeiten ein
gemeinsamer Weg gesucht, bei Missverständnissen Vergebung gewährt und in den
verschiedensten Situationen das gegebene Treueversprechen erneuert wird.
Eng damit verbunden ist häufig ein mangelnder Tiefgang: würde das Leben mit
Christus gestaltet, mit mehr Gebet, mehr Inhalten, Nachdenken über die
Frohbotschaft des Evangeliums und über das eigene Verhalten, würde stärker auf
Gott gebaut, auf Christus, auf seine Hilfe, könnte immer ein Weg gefunden
werden, der durch Täler und über Berge hinwegführt. Das gilt für jede
empfangene Berufung. Wenn wir einfach in den Tag hinein leben, ohne uns um Gott
zu kümmern und das, was im Leben wesentlich ist, dann dürfen wir uns nicht
wundern, dass wir sehr bald an Grenzen stoßen, die für uns unüberwindlich sind.
Viele geben den begonnenen Weg, sofern sie ihn überhaupt betreten haben, bald
wieder auf, weil sie nicht die Weisungen befolgen, die uns Christus gegeben hat
und seine Hilfe nicht verwenden.
3.3.
Oberflächlichkeit
Kehren wir
nochmals kurz zur Betrachtung des Evangeliums vom „reichen Jüngling“ zurück. Er
sagte zu Jesus, dass er alle Gebote von Jugend an beachtet habe. Ob der „reiche
Jüngling“ diese Aussage gut überlegt hat? Wer kann von sich sagen, dass er
immer alle Gebote beachtet, ja, dass er dies von Jugend an getan hat?
Oberflächlichkeit mag oft ein Grund sein, warum die persönliche Berufung nicht
erkannt, und wenn erkannt, nach einiger Zeit nicht treu gelebt wird.
Oft spielt auch ein falscher Gewissensbegriff eine Rolle. Anstatt unser Leben
zu verändern, wo es nötig ist, schwächen wir die Gebote ab und stellen ihre
Gültigkeit in Frage. Immer finden wir auch andere, die es genau
so sehen ... Im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es: „Bei der
Gewissensbildung ist das Wort Gottes Licht auf unserem Weg. Wir müssen es uns
im Glauben und Gebet zu eigen machen und in die Tat
umsetzen. Auch sollen wir unser Gewissen im Blick auf das Kreuz des Herrn
prüfen. Wir werden dabei durch die Gaben des Hl. Geistes und das Zeugnis und
die Ratschläge der anderen unterstützt und durch die Lehre der kirchlichen
Autorität geleitet“ (KKK 1785).
Wer sich nicht ständig am Wort Gottes orientiert, nicht innehält und im Bezug auf den eigenen Lebensweg und das konkrete
Verhalten im Alltag den Willen Gottes zu erforschen sucht, erkennt die Berufung
nicht und verwirklicht sie nicht.
3.4. Die
kollektive Selbstrechtfertigung - ein kollektives Nein zur Berufung?
In unserer
fortschreitend säkularisierten Gesellschaft, deren Wertvorstellungen immer mehr
Personen erfassen und auch Glieder der Kirche beeinflussen können, zeichnet
sich immer deutlicher die Tendenz ab, nicht das Evangelium, sondern die von der
Mehrheit der Bevölkerung gewählten Verhaltensweisen als „Norm“ zu betrachten.
Wer mit Berufung auf das Evangelium dieser Mehrheit nicht folgt, wird als
„extrem“ eingestuft oder gar als „Fundamentalist“ und „sektenverdächtig“
apostrophiert.
Es ist auffallend, dass in letzter Zeit bevorzugt jene Gruppen und kirchlichen
Einrichtungen, die mit dem Papst verbunden sind, in dieser Hinsicht in Verruf
geraten. Interessanterweise sind sich außer- bzw. antikirchliche
Kräfte und manche innerkirchliche Strömungen in diesem Urteil einig. Woher
kommt das? Woran liegt es? An jenen Gruppierungen, an deren falschen
Verhaltensweisen oder daran, dass deren Existenz an etwas erinnert, was man
nicht wahr haben will, was nicht sein darf?
4. Die Anforderung
Christi
Jesus hat
gesagt: „Geht durch das enge Tor! Denn das Tor ist weit, das ins Verderben
führt, und der Weg dahin ist breit, und viele gehen auf ihm. Aber das Tor, das zum
Leben führt, ist eng, und der Weg dahin ist schmal, nur wenige finden ihn“ (Mt
7, 13-14).
4.1. Weg der
Erneuerung - Ja zur Berufung
Heute ertönt
bei jedem Versuch, an die Anforderung des Evangeliums und an die Notwendigkeit
der Umkehr zu erinnern, sofort der Warnruf: die Kirche werde zu einer Sekte, zu
einer unbedeutenden Sondergruppe, wenn man versuche, solche Lehren, die
„niemand“ versteht bzw. annimmt, durchzusetzen.
Mir kommt die Frage: War die Kirche in ihren Anfängen nicht tatsächlich eine
solche kleine, unscheinbare Gruppe, die dann allerdings eine ganze Welt
verändert hat? Was hat ihr die Kraft verliehen? War es Anpassungsfähigkeit an
die heidnischen Gegebenheiten oder eher das Martyrium, der tiefe Glaube einer
kleinen Schar von Überzeugten? War das Christentum - die Zahl derer, die
Christus tatsächlich nachfolgten - im Laufe der Geschichte nicht immer wieder
eine kleine, manchmal winzige Minderheit, die durch das besondere Charisma, vor
allem durch die Heiligkeit einzelner, durch deren offensichtliche
Gottverbundenheit und den oft heroischen Einsatz für die Menschen plötzlich
wieder ausstrahlte? Hat nicht Jesus gesagt: „Wer mein Jünger sein will, der
verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“? (Mk 8,
34). Sprach er nicht von der „kleinen Herde“? (Lk 12, 32). Stellte er nicht
sogar die Frage, ob der Menschensohn, wenn er wiederkommt, Gläubige finden
wird? (vgl Lk 18, 8).
Sollen wir uns also keine Sorge machen, wenn bei uns die Schar der Gläubigen in
dieser unserer Zeit immer kleiner wird? Zunächst möchte ich festhalten, dass -
wie ich häufig betone - die Zahl der Gläubigen bei uns gar nicht so klein ist
und keineswegs überall abnimmt. Manche Kirchen werden leerer, andere füllen
sich von neuem. Es gab Zeiten, in denen die Zahl der Gläubigen kleiner und die
Schwierigkeiten größer waren als jetzt. In manchen Perioden der Geschichte war
es um die religiöse Praxis - auch bezüglich Einhaltung der Gebote - in unserem
Land wahrscheinlich schlechter bestellt als heute; aber es besteht kein
Zweifel, dass eine Neubesinnung nötig ist und dass die Erneuerung nicht durch
Aufhebung der Gebote und Hinterfragung aller Glaubensgeheimnisse, sondern durch
Umkehr und Neuanfang erreicht wird. Vor allem Heilige sind nötig.
4.2. Jeder ist
zur Antwort aufgerufen
Alle sollten
wir uns regelmäßig fragen: Welches ist meine Berufung? Wie entspreche ich
meiner Berufung? Diese Frage ist und bleibt unser ganzes Leben lang wichtig.
Wenn Du noch jung bist: Käme nicht in Frage, dass Du Dich ganz Gott schenken solltest?
Sich der Verkündigung ganz zu widmen wäre so wichtig! Wie viele Menschen sind
in seelischer Not, verpatzen ihr Leben, weil niemand ihnen beisteht, weil
niemand ihnen den Weg zeigt! Warum eine solche Berufung von vorneherein
ausschließen? Du sagst: Ich kann nicht, das ist mir zu schwer ... Er gibt Dir
die Gnade dazu, wenn Du berufen bist. Werde ich nicht sehr allein sein...? -
Egoisten werden einsam. Wer sich Gott und den anderen zuwendet, ist nicht
einsam. Es lohnt sich!
Wenn Dein Weg die Ehe ist: das ist eine erhabene Berufung. Ich habe manchmal
den Eindruck, dass sie von nur wenigen wirklich erkannt wird. Es ist ein großes
Anliegen, dass viel mehr Eheleute sich dieser Berufung richtig bewusst werden.
Es ist ein gemeinsamer Weg zu zweit und mit den Kindern, wenn Gott sie schenkt,
um lieben zu lernen, um den Weg zur großen Liebe zu suchen und zu finden. Es
ist ein gemeinsamer Weg zu Gott. Eine Ehe kann sehr fruchtbar sein (nicht nur
in Bezug auf die Zahl der Kinder), wenn sie nach dem Willen Gottes gelebt wird.
Bereite Dich darauf vor, eine christliche Familie zu gründen!
Für alle, die schon lange oder länger unterwegs sind: es geht darum, dass wir
in den eigenen Umständen, so wie wir sind, mit allen Kräften Gottes Ruf
entsprechen. Wir dürfen uns nicht einfach mit dem bisher erlangten Niveau an
menschlicher Reife abfinden und nicht bloß in den Tag hinein leben. Es wird
angebracht sein, in uns und zu Gott zu gehen mit der Frage, was er von uns
erwartet, und mit der Bereitschaft, sein Rufen zu hören.
4. 3. Auch
Fehler, Misslingen des Lebensvorhabens,
selbst Krankheit und Tod
bergen einen Ruf Gottes in sich
Für den
Christen gibt es immer Grund zur Hoffnung: Fehler sind Anlass, um Gottes
Vergebung zu suchen. Nach Scheitern des bisherigen Lebensweges kann sich die
Notwendigkeit ergeben, sich den Grundfragen nach Gottes Willen und dem eigenen
Lebensziel von neuem zu stellen. „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen,
eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich
vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände“ (Jes
49, 15 - 16). Gott vergisst die Seinen nicht. Sogar bei Unglück, Krankheit und
Tod dürfen, ja müssen wir davon ausgehen, dass der gütige und barmherzige Gott
seinen Plan hat.
Jesus bleibt an unserer Seite stehen und spricht uns an, vielleicht in diesem
Augenblick. An uns liegt es, auf sein Wort zu hören und ihm nachzufolgen.
Manchmal müssen wir rasch umkehren, wenn wir vom Weg abgekommen sind. Das Ziel
ist eine bewusste Tauf- und Firmerneuerung, zugleich
ein erneutes Ja zur persönlichen Berufung, die wir empfangen haben. Durch den
aufrichtigen Empfang des Bußsakramentes verbunden mit einem ehrlichen
Bekenntnis, Bemühung um Reue, mit einem festen Vorsatz entstehen in uns Freude
und Frieden, auch ein neuer Ansatz. Christus selbst greift ein, hilft uns und
führt uns. Mit ihm verbunden wird unser Leben fruchtbar. Alle können und müssen
wir dazu beitragen, dass sich das Reich Gottes bei uns selbst und in unserer
Umgebung ausbreitet und entfaltet. So wächst auch die Kirche.
Bitten wir Maria um ihre Fürsprache. Sie wird uns beistehen. Beten wir auch
füreinander!
+ Klaus Küng