Jahr der Berufung
„Darum beten wir auch immer für euch,
dass unser Gott euch eurer Berufung würdig mache
und in seiner Macht allen Willen zum Guten
und das Werk des Glaubens vollende“ (2 Thess 1, 11).
Liebe Mitchristen!
Das Jahr 2002 wurde von den österreichischen Bischöfen zum „Jahr der Berufung“
erklärt. Dazu kam es als Folge einer Reflexion über die Nöte unserer
Gesellschaft, unserer Zeit und unserer Diözesen.
Vielleicht werden Sie versucht sein, als Erstreaktion auf diese Ankündigung
entgegenzuhalten: Gibt es derzeit nicht andere, dringendere Anliegen als die
der Berufungen?
Dazu ist Folgendes zu bedenken: Es geht beim „Jahr der Berufung“ nicht nur um
geistliche Berufe wie zum priesterlichen Dienst oder zum Ordensstand. Allen
Menschen soll bewusst gemacht werden, dass sie eine „Berufung“ haben, oder
anders gesagt: Mit jedem Menschen verbindet sich ein Plan, ein Vorhaben, eine
Erwartung Gottes, die es zu verwirklichen gilt. Wenn von „Berufung“ die Rede
ist, dann steht der Gottesbezug jedes Einzelnen im Blickfeld. Damit ist auch
untrennbar ein Bezug zu den anderen Menschen verknüpft. Beides hängt damit
zusammen, dass wir alle als Abbild Gottes (vgl. Gen 1, 27) erschaffen worden
sind. Gott, dessen Wesen die Liebe ist, hat den Menschen aus Liebe erschaffen
sowie zur Liebe befähigt und bestimmt (vgl. Apostolisches Rundschreiben über
die Familie 11). Daher gehört es zur grundlegenden Berufung jedes Menschen,
Gott, die Mitmenschen und auch sich selbst zu lieben. Diese Grundberufung gilt
es als erstes zu erkennen und zu leben. Dies wird dazu führen, dass sich der
Einzelne, die Gemeinschaft, ja die ganze Welt zum Guten entwickelt und der
Mensch das Ziel erreicht, für das er erschaffen worden ist.
Vielleicht werden Sie jetzt sagen: Das ist alles recht und schön, aber sehr
allgemein und außerdem einfältig. – Das mag auf den ersten Blick so scheinen.
Doch dem ist nicht so.
Wie wichtig wäre es beispielsweise, dass junge Menschen, die füreinander
bestimmt sind, die sich gerne haben, ihre „Berufung“ entdecken, die Berufung
zur Ehe. Das scheint mir zu einem guten Teil auch der Weg zu sein, der gerade
bei uns und in anderen Wohlstandsländern aus der Krise der Gesellschaft
herausführen kann. Dort, wo christliche Familien entstehen, die ihre Aufgabe
als Schule des Lebens, der Liebe und des Glaubens wahrnehmen, entsteht
Hoffnung. Es ist zwar nicht zu übersehen, dass unter den heutigen Gegebenheiten
die Familie vielen Gefährdungen ausgesetzt ist. Aber eine Familie, die bewusst
aus dem Glauben heraus gestaltet wird, hat eine große Kraft. Das setzt freilich
voraus, dass der damit verbundene Ruf Gottes erkannt und gezielt nach Wegen
gesucht wird, ihm in den heutigen Gegebenheiten zu entsprechen. Das erfordert
Initiative, eine persönliche Antwort aus dem Glauben auf die Herausforderungen
unserer Zeit. Das wird Segen bringen und dazu führen, dass Spannungen abgebaut,
Verletzungen verziehen werden und ein guter Geist, Friede und Freude in die
Familien einkehrt.
Jedem einzelnen Christen ist es aufgetragen, seine „Berufung“ zu entdecken:
abgesehen vom Familienstand – verheiratet oder unverheiratet – kommt dabei der
beruflichen Arbeit eine besondere Bedeutung zu. Das Ergreifen einer bestimmten
Tätigkeit prägt zumeist ein ganzes Leben und eröffnet die Möglichkeit, einen
positiven Beitrag zum Wohle anderer zu leisten. Und eines ist sicher: Die
Gesellschaft braucht christliche Ärzte, Politiker, Geschäftsleute, Lehrer,
Bauern,... die ihren Beruf als Teil ihrer von Gott empfangenen Berufung
betrachten. Wer in dieser Haltung tätig ist, denkt nicht an den eigenen
Vorteil, an die Ehre oder das Einkommen, sondern bemüht sich, mit Freude und
Hingabe, mit Dienstbereitschaft und Großherzigkeit um die Erfüllung seiner
Aufgabe. Daraus erkennen wir den enormen Stellenwert der Berufung sowie die
Notwendigkeit, vor wichtigen Entscheidungen Einkehr zu halten und auf den Anruf
Gottes zu hören!
Geistliche Berufe sind für die Entwicklung der Gesellschaft ganz besonders
wichtig. Priester sind unersetzlich. Sie stehen in einem besonderen Dienst
Gottes und der Menschen. Sie tragen dafür Sorge, dass das Wort Gottes, die
frohe Botschaft verkündet wird. Sie feiern, an die Stelle Christi tretend, für
alle Menschen die heiligen Geheimnisse, Geheimnisse, die Hoffnung und Kraft erzeugen.
Sie haben die schöne Aufgabe, alle zu Christus hinzuführen. Die Tätigkeit des
Priesters ist grundlegend für alle anderen Berufungen. Die Priester stehen im
Dienst für die Grundberufung, für Ehe und Familie, wobei es sehr wichtig ist,
dass sie vorbildlich um die persönliche Verbundenheit mit Christus - dem
eigentlichen Priester, Propheten und König aller – bemüht sind. Die geistlichen
Berufe begleiten die Familien; sie stützen die anderen Christen, die in
unterschiedlichsten Berufen und Aufgaben tätig sind. Die Gebete und Opfer jener
Frauen und Männer, die sich uneingeschränkt Gott hingeben, bilden einen festen
Rückhalt für die ganze Kirche.
Mit neuer Deutlichkeit erkennen wir heute die Bedeutung der geistlichen Berufe
in den Missionsländern. Priester und Ordensleute, die sich in den Dienst der
Mission gestellt haben, sind eine wesentliche Hilfe für die Entwicklung dieser
Länder. Ihre großherzige Hingabe an Gott führt sie zur vollständigen Hinwendung
zu den Menschen, insbesondere zu den armen und ärmsten, ohne für sich selbst
Vorteile zu suchen. Durch ihren selbstlosen Einsatz werden großartige
Veränderungen erreicht. Freilich hängt die nachhaltige Wirksamkeit ihrer
Bemühungen davon ab, ob es ihnen gelingt, „Berufungen“ zu wecken: Geistliche,
aber auch Laien, die ihre Verantwortung als Christen in Beruf und Familie
wahrnehmen und so selbst zu Kraftquellen einer positiven Gestaltung der
Gesellschaft in ihrem Land werden.
Die „Berufung“ wachzurufen heißt, bewusst zu machen, dass jeder Mensch eine
Verantwortung hat, da er Talente und Fähigkeiten besitzt, die auch anderen zugute kommen sollten. Das gehört mithin zum Wichtigsten in
Missionsländern und auch bei uns. Alle Menschen sind Kinder Gottes, sind von
Gott angesprochen; niemand erhält das Leben nur zum eigenen Vergnügen (das
würde nicht wirklich froh machen). Alle sind befähigt, Gutes zu tun, zu wahrer
Wirksamkeit, zu wahrer Liebe. Wenn viele ihre Berufung erkennen, wird viel
Gutes geschehen. So betrachtet ist die Erkenntnis der Berufung ein Schlüssel zur
Überwindung der Nöte in der Gesellschaft bei uns und in anderen Teilen der Welt
sowie auch in der Kirche selbst.
Warum sind in den letzten Jahrzehnten trotz des phantastischen technischen,
wirtschaftlichen, medizinischen Fortschritts die Armen in unserer Welt noch
zahlreicher geworden? Warum klafft die Schere von Arm und Reich immer mehr
auseinander? Die Antwort scheint mir klar: Die hochentwickelten Länder benützen
ihre Position, um ihren Reichtum zu vervielfachen, die unterentwickelten dienen
als Billiglohnländer und sichern den Markt. Eines ist gewiss: Die Maßnahmen der
Entwicklungshilfe greifen nicht, solange sie nur in der Vermittlung von
Krediten und in der Verbreitung von Verhütungsmitteln (wie dies häufig
praktiziert wird) bestehen. Es ist nicht leicht, in den komplexen Situationen
des Elends wirksam und anhaltend zu helfen. Hilfe zur Selbsthilfe ist immer
noch das geeignetste Mittel zur dauerhaften Bekämpfung von Armut. Gerade
deshalb sind Menschen gefordert, die ihre Berufung dazu verspüren und die
wichtige Aufgabe erkennen, den Einheimischen zur Hand zu gehen, sie auszubilden
und unter ihnen Berufungen zu wecken.
Wir alle erleben, dass Terror und Krieg derzeit die ganze Welt in Atem halten.
Die akuten Gefahren sind nicht überwunden, und sie werden immer wieder gegeben
sein, solange die sozialen Unterschiede in der Welt so groß und die
wirtschaftlichen Interessen die treibenden Kräfte sind, mit Machtpolitik
verfolgt und verteidigt werden. Ein geistlicher Autor unserer Zeit kommt nach
Analyse der Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten zum Schluss, dass ein
weltweites Desaster kaum zu vermeiden sei, wenn nicht eine Neubesinnung erfolge
(vgl. H. Caffarel, „Weil du Gott bist“, S. 94-99).
Die Geschehnisse vom 11. September und deren Folgen sind ein deutlicher
Hinweis. Wir könnten es auch anders sagen: Es sind dringend mehr Menschen
nötig, die ihre Berufung, die ihnen zugedachten Wege und Aufgaben erkennen und
ihnen entsprechen.
Einen ersten Schritt setzen heißt bei uns selbst anfangen: Wie erklärt es sich,
dass mitten im Wohlstand viele Menschen an Depressionen leiden, so viele
Familien zerbrechen, viel Not besteht, auch wenn insgesamt ein Überfluss an
Mitteln vorhanden ist? Ein näheres Hinsehen lässt erkennen, dass die Sinnfrage
dabei fast immer eine wichtige Rolle spielt, und vor allem der Egoismus in der
Familie schwerwiegende Folgen mit sich bringt. Die Menschen finden den Weg zur
Liebe nicht. Auch in diesem Zusammenhang kommen wir zum Schluss: das Erkennen
der göttlichen Berufung und die sich daraus ergebende Verantwortung sind von
ausschlaggebender Bedeutung.
Vor allem brauchen wir ganz auf Christus orientierte Priester, und genauso
möglichst viele junge Menschen, die bewusst eine christliche Familie anstreben
und ihren Beruf als Teil der Berufung – dessen was Gott von ihnen will –
betrachten. Dazu kommt die Mithilfe im Leben der Pfarre. Der Priestermangel
bedeutet ja eine Anfrage an uns alle und stellt zugleich eine Herausforderung
dar. Priestermangel ist eine Folge des Gläubigenmangels.
Heute, in einer pluralistisch geprägten und von einer fortschreitenden
Säkularisierung gekennzeichneten Gesellschaft sind Christsein und damit pfarrliche Seelsorge schwieriger geworden. Da ist die
Entscheidung des einzelnen Christen und der christlichen Familie gefragt.
Prioritäten müssen gesetzt werden: sich Zeit nehmen für das Gebet, für die
Familie, für die Weiterbildung und für echte Erholung. Konkrete Schritte zu
einer bewusst christlichen Lebensgestaltung sind erforderlich. Es ist aber auch
notwendig, dass sich die Eltern in der eigenen Familie, aber auch in der
Pfarrgemeinde der Weitergabe des Glaubens persönlich und mit Kompetenz
annehmen. Das macht die Auseinandersetzung mit den Inhalten des Glaubens und
ein Bemühen um ihre Verwirklichung im eigenen Leben erforderlich. Zur
Entfaltung des christlichen Lebens in den einzelnen Gemeinden, zur Betreuung
von alten und kranken oder in anderer Weise notleidenden Menschen braucht es
die Verfügbarkeit großherziger Christen. Die Bereitschaft, im Pfarrgemeinderat,
Pfarrkirchenrat oder anderen Bereichen des pfarrlichen
Lebens Verantwortung mitzutragen, kann zur konkreten Verwirklichung der
Berufung gehören. Heute ist die Zusammenarbeit zwischen Priestern und Laien
unerlässlich. Niemand sollte angesichts der vorhandenen Nöte und Bedürfnisse
vorschnell sagen: Das ist die Aufgabe anderer. Passivität kann auch eine Art
sein, der eigenen Berufung zu entgehen.
Wie soll das „Jahr der Berufung“ gelebt werden?
„Wer bittet, empfängt, wer sucht, der findet, wer anklopft,
dem wird geöffnet“ (Lk 11,19). Gebet ist ohne Zweifel das Wichtigste. Das hängt
mit dem Wesen der Berufung zusammen. Sie stammt von Gott, er erweckt sie –
durch den Hl. Geist – er belebt sie. Er ist es, der jene, die berufen sind,
führt und stärkt, heilt und aufrichtet, wenn sie niederfallen oder sich
verletzen.
Aber ist Gebet schon alles? Unvergesslich ist mir in diesem Zusammenhang der
Einwand eines Journalisten. Er hatte mich gefragt, wie die Kirche auf den
Priestermangel reagieren wolle, und ich hatte ihm geantwortet, man müsse viel
beten. Darauf sagte er zu mir: Ob das nicht zu einfach ist?
Nein, ist es nicht zu einfach? Es hängt wohl davon ab, was mit „Beten“ gemeint
ist.
Zu jedem wahren Beten gehört, dass wir nicht nur unsere Anliegen vor Gott
tragen – er weiß alles, auch unsere noch nicht ausgesprochenen Regungen des
Herzens. Wir müssen im Gebet vor allem hinhören, wie Samuel, der zunächst nicht
verstanden hatte, dass Gott ihn ansprach. Erst auf den Hinweis des erfahrenen
Eli lernte er sagen: „Rede, Herr, dein Diener hört“ (vgl. I Sam 3, 1-21). Das
ist auch für uns wichtig, wenn wir Gott um Berufungen bitten.
Es ist sehr wichtig, dass wir auch unsere eigene Berufung erkennen und ihr,
gestützt auf die Hilfe Gottes, mit ganzer Kraft entsprechen. Die Grundfrage
lautet: „Herr, was soll ich tun?“ (Apg 22, 10). Was erwartest du von mir?
Es wird notwendig sein zu überlegen, wie wir den mit unserer persönlichen
Berufung verbundenen Aufgaben nachkommen: als Mutter, als Vater einer Familie,
im Beruf, in Kirche und Gesellschaft, gegenüber Gott und den anderen Menschen.
Wie bemühen wir uns, in unserer Berufung zu reifen und zu wachsen?
Durch die Taufe wurde unsere Berufung grundgelegt. Das gilt für jeden Christen.
Durch sie wurden wir von der Erbsünde befreit, im Falle einer Erwachsenentaufe
auch von den persönlichen Sünden. Durch die Taufe wurden wir in die Kirche, den
Leib Christi, aufgenommen. Durch Christus haben wir Zugang gefunden beim Vater,
wurden wir zu Freunden, ja zu Kindern Gottes. Bei der Taufe wurden wir zum
ersten Mal gesalbt als Zeichen der Verbundenheit mit Christus, dem Priester,
Propheten und König. Entsprechend sollten wir leben. Es gilt die Fähigkeit zur
dreifachen Liebe zu entfalten, aufzubauen – hin zu Gott, zum Mitmenschen, zu
mir selbst. Das Evangelium sollte die Richtschnur unserer Gedanken, Worte und
Werke sein. Christus sollte in unserem Leben leuchten.
Durch die Firmung wurden wir in besonderer Weise mit der Gabe Gottes, dem Hl.
Geist ausgestattet. So ist es uns möglich, den Willen Gottes zu erkennen, in
den verschiedenen Situationen des Lebens den Weg zu finden, der nach oben
führt, dem ewigen Ziel entgegen. So werden wir fruchtbar, den anderen zum
Segen.
Durch die Eucharistie können wir uns immer wieder von neuem mit Christus
vereinen. Unsere Liebe wird genährt, wir werden bestärkt, „hineingewandelt“ in
eine tiefere Beziehung zu ihm, wenn nicht zwischen ihm und uns Hindernisse
vorhanden sind. Es kann ja geschehen – wir wissen es – dass die Taufgnade durch
Fehlverhalten verloren geht. Auch der Hl. Geist achtet
unsere Freiheit. Wenn wir uns ihm verschlossen haben, empfangen wir auch nicht
seine Wirkung. Dann ist es dringend nötig, dass wir Vergebung suchen, umkehren,
und mit einem erneuerten Geist den Weg wieder aufnehmen.
Zu den Grundfragen unserer Berufung gehören immer auch unsere Beziehungen zu
den Mitmenschen, unsere Sorge um sie, die Wahrhaftigkeit unserer Liebe zu
ihnen, unser Engagement für die Gemeinschaft der Gläubigen, unser offenes Herz
für die Hilfsbedürftigen unserer Zeit.
Das „Jahr der Berufung“ sollte dazu beitragen, dass wir zu unserer eigenen
Berufung einmal mehr ja sagen und wenn möglich unseren Schritt beschleunigen.
Gott überfordert niemanden. Er liebt jeden von uns und schenkt die notwendige
Gnade, damit wir, als sein Ebenbild erschaffen, unsere „Berufung“ erkennen und
in Treue zu ihr stehen können. An uns liegt es, in Freiheit seine Liebe zu
erwidern und mutig den uns zugedachten Weg zu gehen. Wir sollten aber auch
innig Gott darum bitten, er möge Arbeiter in seinen Weinberg senden, Berufungen
wecken, ganz besonders Priester.
Ein gnadenreiches Weihnachtsfest und Gottes Segen im Neuen Jahr wünscht Ihnen
+ Klaus Küng