In der Liebe wachsen: Warten bis zur Ehe

 

Liebe Mitchristen!


Diesmal möchte ich es wagen, ein "heißes Eisen" anzupacken. Für mich wäre es bequemer zu schweigen. Darf aber ein Bischof schweigen, wenn zu erkennen ist, dass aus bestimmten Einstellungen und Verhaltensweisen für das Wohl des einzelnen wie der Gemeinschaft große Schäden entstehen? Wie schmerzlich ist so oft das Zerbrechen von Ehen, für das Paar selbst und für dessen Kinder, wie oft bleibt das Gefühl der Entwertung für die getrennten Partner, das Bewusstsein, persönlich Kostbarstes in die Beziehung investiert zu haben - und vergeblich. Wie häufig wächst in der gegenseitigen Entfremdung die Distanz zum Glauben und damit zu den tiefen Sinngebungen für das Leben. - Und wächst so nicht auch die heute so häufig beklagte Entsolidarisierung in der Gesellschaft? Spielt nicht eine große Rolle der Egoismus, der jede wahre Liebe in ihrer Entfaltung behindert und ihr manchmal sogar von Anfang an den Todeskeim einpflanzt?
Die "geistlichen Rundbriefe" möchten ein Anstoß zum Nachdenken und auch zur Veränderung sein. Das gilt vielleicht in besonderer Weise für diesen.
Niemand möge sich durch meine Aussagen in seiner Freiheit geschmälert fühlen. Jeder muss letztlich selber entscheiden, wie er sein Leben gestaltet. Jeder muss letztlich auch selbst Verantwortung dafür tragen. - Ich möchte jedoch nicht den Vorwurf hören müssen: Warum haben Sie es uns nicht deutlicher gesagt? !
Warum ist das Thema so wichtig? Hier geht es nicht nur darum, "was man nicht tun darf", sondern vor allem um die Frage, wie eine Beziehung gelingen, wie Liebe sich entfalten und reifen kann, wie Treue zueinander möglich wird, d.h. es geht um Ziele, mit denen das persönliche Glück und die gesunde Entwicklung einer Familie untrennbar verknüpft sind.

1. Ein brennendes Problem

Viele Jugendliche haben heute schon früh intime sexuelle Kontakte. Nicht wenige verlassen jung das Elternhaus, um zusammen mit dem Freund bzw. der Freundin zu wohnen, was allerdings sehr oft nicht von langer Dauer ist, obwohl die meisten (auch der jungen Generation) Treue prinzipiell als erstrebenswert und wichtig ansehen. Sehr viele leben bereits längere Zeit vor der Ehe gemeinsam. Mit der Hochzeit ist aber die eheliche Treue nicht unbedingt gewährleistet. Bei einer größeren Zahl von Eheleuten kommt es nach einiger Zeit zur Scheidung und dann zur standesamtlichen Wiederheirat.
Diese Praxis ist in den beiden letzten Jahrzehnten derart allgemein geworden, dass jene, die "bis zur Ehe warten", als Ausnahme, wenn nicht gar als verklemmte Außenseiter gelten. Die Eltern stehen dieser Situation teils ohnmächtig gegenüber, teils tolerieren sie diese mit den Argumenten: "Alle tun es", "die Zeiten haben sich geändert" oder "besser zuerst probieren als später Scheidung". Enthaltsamkeit vor der Ehe wird von vielen als unzumutbar betrachtet. Auch Priester vertreten unterschiedliche Meinungen und manche begegnen den Verhaltensweisen nicht nur mit Verständnis, sondern mit einer gewissen Unsicherheit oder sogar mit der Aussage: "Es kommt nur darauf an, dass sie sich wirklich lieben."

2. Der Wert und die Bedeutung der Sexualität im Plane Gottes

Der jetzige Papst hat wie kein anderer zuvor die Zusammenhänge von Leib und Geist, Körper und Person dargestellt und die im II. Vatikanische Konzil enthaltenen Aussagen über den Wert und die Bedeutung der Sexualität im Schöpfungsplan Gottes vertieft. Leib und Geist bilden in der menschlichen Person eine Ganzheit, die auch in der geordneten Ausübung des Geschlechtstriebes keine Aufspaltung erfährt. Sexualität befähigt einerseits zur Teilnahme an Gottes Schöpfertätigkeit durch Mann und Frau, die sich im ehelichen Akt vereinen und - wenn Gott es gibt - bei der Entstehung menschlichen Lebens, einer neuen Person, mitwirken. Andererseits wird Sexualität zum besonderen und für die Ehe spezifischen Ausdruck der gegenseitigen Ganzhingabe, wenn sie in menschlich-sensibler Weise vollzogen wird. Dafür ist die Wahrung bestimmter Rahmenbedingungen unabdingbare Voraussetzung: Die geschlechtliche Vereinigung kann eigentlich nur zwischen Personen, und zwar zwischen einem Mann und einer Frau, die sich auf Dauer in selbstloser Treue verbunden fühlen, den Charakter einer leib-seelischen Ganzhingabe tragen. Sie muss ausschließlich sein, andernfalls verletzt sie die Würde der Person, die "ausgetauscht" wird, und bedeutet daher einen schweren Verstoß gegen die Liebe und die Wertschätzung. Polygamie oder Polyandrie sind mit der Würde des Menschen nicht vereinbar. Es dürfen auch keine zeitlichen Begrenzungen der Beziehung vorliegen. Eine flüchtige Begegnung kann niemals Ausdruck einer Ganzhingabe sein. Aber auch Beziehungen ohne dauerhafte Bindung fehlt die Voraussetzung dafür. Die Ganzhingabe muss schließlich, wenn sie echt sein soll, ohne Abstriche geschehen (dazu gehört die Annahme der Möglichkeit zu Vater- oder Mutterschaft).
Das II. Vatikanische Konzil sagt dazu: "Diese innige Vereinigung als gegenseitiges Sich-Schenken zweier Personen wie auch das Wohl der Kinder verlangen die unbedingte Treue der Gatten und fordern ihre unauflösliche Einheit" (GS 48).

3. Was sagt die Heilige Schrift?

Manche meinen, in der Bibel werde über voreheliche Beziehungen nichts gesagt. Dies, obwohl der biblische Befund bis vor wenigen Jahren von keinem Theologen (auch auf protestantischer Seite) ernsthaft bezweifelt wurde. Es gibt zwar nur wenige Stellen der Bibel, die direkt auf die Zeit vor der Ehe Bezug nehmen, aber diese wenigen und ihr Kontext zeigen, dass im Alten Testament eheliche Treue und voreheliche Enthaltsamkeit sogar sehr ernst genommen wurden, auch wenn es zeitweise Lockerungen in der Praxis gab. Zu Lebzeiten Jesu war es für Gläubige ein Gebot, während der Verlobungszeit nicht zusammenzuleben. Darauf weisen unter anderem die Reaktionen Marias (auf die Botschaft des Engels) und Josefs (auf die Schwangerschaft Marias) hin. Jesus hat die von Gott geoffenbarten Gebote in keiner Weise aufgehoben, sondern ihre volle Erfüllung gewollt. Bezüglich Ehe betonte er die Unauflöslichkeit - weil es Scheidungen gab - und das Feingefühl in der Treue. Den Pharisäern gegenüber lehrte Er: "Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als 'Mann und Frau geschaffen hat' und dass er gesagt hat: 'Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an eine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein?' Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen" (Mt 19, 4-7). In der Bergpredigt heißt es: "Wer eine Frau nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch begangen" (Mt 5, 28). Diese rigorosen Aussagen betreffen alle außerehelichen Beziehungen. Dazu sind auch die vorehelichen zu zählen. Dass man nicht zusammenlebt, ohne verheiratet zu sein, war selbstverständlich. Durch Christus wurde diese Haltung bestärkt. Der hl. Paulus spricht deutlicher, wenn er vor Unzucht warnt und die Unverheirateten und Witwen auffordert zu heiraten, wenn sie nicht enthaltsam leben können, weil es besser sei zu heiraten als sich in Begierde zu verzehren (vgl I Kor 7,9). In diesem Zusammenhang erinnert der hl. Paulus daran: "Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Hl. Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst, denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden". Daran schließt sich dann die Aussage: "Verherrlicht also Gott in eurem Leib" (vgl I Kor 6,19-20).
Die Bibel und wahrer christlicher Geist sind nicht leibfeindlich. Im Gegenteil, in ihr besteht das Bewusstsein, dass der Mensch als Abbild Gottes eine hohe Würde besitzt. Die Verbindung zwischen Mann und Frau in der Ehe ist ein Abbild des Bundes Gottes mit dem auserwählten Volk bzw. Christi mit der Kirche. Durch Christus und seine Hingabe an die Kirche im Erlösertod wird das Geheimnis der Liebe am tiefsten geoffenbart. Eine eheliche Liebe, die an Ihm orientiert ist, sich nach Seiner Weisung entfaltet und mit Seiner Hilfe reift, wird vom hl. Paulus als das große Geheimnis bezeichnet. Der Aspekt der Sexualität wird dabei nicht ausgeklammert, sondern gehört zum Wesentlichen der Ehe..

4. Liebe muss ganzheitlich wachsen

Sexualität ist, wenn sie als integrierender Bestandteil der Person dem eigenen Stand entsprechend richtig gelebt wird, etwas sehr Wichtiges, für jeden Menschen Wesentliches und Gottgewolltes. Sie wächst und entfaltet sich von Kindheit an, durchläuft verschiedene Phasen und Stadien. Sie braucht - wie jede Triebkraft - Gestaltung, Kultivierung. Nicht die Sexualität trägt die Liebe, die Freundschaft, sondern umgekehrt erfährt die sexuelle Beziehung ihre belebende Kraft aus der feinfühligen Freundschaft.
Liebe ist nicht mit "Sex" gleichzusetzen, sie ist auch nicht einfach ein Empfinden, ein Gefühl, das manchmal sich regt, manchmal wieder vergeht. Wahre Liebe ist mehr. Sie ist auf Dauerhaftigkeit angelegt, entfaltet und verändert sich, erfährt, wenn sie anhält, eine Läuterung, Vertiefung und Reifung. Eine solche Liebe begründet eine Freundschaft bzw. beruht auf ihr. Sie befähigt zu einer tragfähigen Beziehung, die auch große Schwierigkeiten zu überdauern vermag, oft in Krisen reift und daraus gestärkt hervorgeht. Mit der mangelnden Bereitschaft bzw. Unfähigkeit, auch in schweren Tagen die Treue zu bewahren, stehen heute häufig die großen Probleme der Ehen in Zusammenhang: in finanzieller und materieller Hinsicht verfügen junge Paare im Vergleich zu früher trotz aller offensichtlichen Benachteiligungen gegenüber Singles meist über relativ gute Voraussetzungen, auf der Beziehungsebene sind sie dagegen vielfach mangelhaft Grund gelegt.
Wie kann insbesondere in Hinblick auf eine spätere Ehe eine tragfähige Beziehung aufgebaut werden?
Wichtig sind vor allem im wesentlichen übereinstimmende Vorstellungen der beiden Partner bezüglich Lebensziel, Lebensgestaltung, Familie und Kinder. Der Einstellung zur Religion kommt große Bedeutung zu, denn sie beeinflusst nicht nur die innere Ausrichtung in allen wichtigen Lebensfragen. Die Beziehung zu Gott schenkt der Familie einen gemeinsamen, festen Halt und eine Quelle, aus der sie in allen Situationen des Lebens, in frohen und traurigen Stunden, auch in Bedrängnissen, Licht und Kraft schöpfen kann. Weiters sind gemeinsame Interessen für das Miteinander hilfreich. Vor allem ist die Fähigkeit, aufeinander einzugehen und den Alltag erfreulich zu gestalten, die Fähigkeit, die Talente und Vorzüge des anderen, aber auch seine Schwächen und Schwierigkeiten zu berücksichtigen, genauso wie das Bewusstsein der eigenen Veranlagungen eine unerlässliche Voraussetzung für einen gemeinsamen Lebensweg. Um diese Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten festzustellen, sind allem anderen voran das gegenseitige Sich-Kennenlernen nötig, das Wissen, dass Spannungen in der Beziehung auftreten, und der Wille, damit konstruktiv umzugehen.

5. Sex - kein geeigneter Weg, sich kennen zu lernen oder Liebe zu erproben

Eine Freundschaft, die zu früh, zu stark und unter falschen Voraussetzungen das Erotische sucht, kann sich in der Regel nicht richtig entfalten. Das Gespräch, die gemeinsamen Erlebnisse anderer Art werden spärlicher und dürftiger, weil das Erotische immer stärker den Mittelpunkt der Begegnungen bildet. Ausgelebt hat man sich nichts mehr zu sagen und ist angewidert. Häufig kommt es zu Unzufriedenheit und Konflikten, die zur Trennung Anlass geben. Es fehlt die Grundlage für eine dauerhafte Beziehung.

Die Freiheit wird vermindert

Durch den Umstand, dass ohne die richtigen Voraussetzungen Intimbeziehungen eingegangen worden sind, wird häufig die Situation schwierig: Die persönliche Freiheit wird vermindert. Da man sich vor Aufnahme der Lebensgemeinschaft zuwenig kannte und nun im Alltag auch die negativen Eigenschaften zum Vorschein kommen, können bald ernste Zweifel auftreten, ob die "Wahl" richtig ist. Nun aber, da alles so weit gekommen ist (nicht selten begleitet von schmerzlichen Auseinandersetzungen oder sogar Bruch mit der Herkunftsfamilie), entsteht die Angst, was im Falle einer Trennung vom Partner sein wird. Außerdem scheut man sich, aus einer an sich guten inneren Regung dem anderen den Schmerz der Trennung anzutun. So werden dann diese Verhältnisse oft längere Zeit ohne Sicherheit und ohne Klarheit mehr oder weniger quälend weitergeführt. Noch schwieriger wird es, wenn ein Kind kommt .... Nicht selten kommt es auf diese Weise zu "Muss-Ehen", die nicht eingegangen würden, wenn diese äußerst schwierige Situation nicht entstanden wäre.

Eine falsche Logik

Viele ziehen daraus den Schluss, dass gerade deswegen die Information über Verteilung und Anwendung geeigneter Verhütungsmittel der einzig richtige Weg sei. Auf den ersten Blick ist dieser Gedankengang verständlich und wirkt vernünftig. Aber abgesehen von gesundheitlichen und moralischen Bedenken, ist es auch vom pädagogischen Standpunkt mehr als problematisch, wenn die besorgte Mutter der Tochter die Pille oder dem Sohn ein Präservativ gibt, "damit das Schlimmste vermieden wird". - Die psychischen Auswirkungen sexueller Intimitäten treten auch dann ein, wenn keine Schwangerschaft zu "befürchten" ist.
Dazu kommt, dass "Verhütungsfehler" häufig sind. Die Statistiken zeigen dies eindeutig. Warum ist die Zahl der außerehelich empfangenen Kinder heute im Zeitalter der Verhütungsmittel viel höher als früher? Woran liegt es? Sicher nicht daran, dass die heutige Jugend über Sexualität und Verhütung weniger gut als früher informiert ist!
Jedenfalls bleiben nach einer zerbrochenen Beziehung, in der entsprechend dem Gebot Gottes und der Anforderung unserer Liebe zum anderen bestimmte Grenzen nicht beachtet wurden, meist tief greifende Verletzungen zurück. Was vielleicht aus Leichtsinn, Neugierde oder aus dem falschen Glauben geschieht, dass das alle tun, endet meist sehr bald mit dem Gefühl, missbraucht worden zu sein, oder enttäuscht darüber, dass sich der andere so leicht verschenkt hat.
Nicht selten hat jene erste, allzu rasche Nachgiebigkeit in einer keimenden Freundschaft einen relativ häufigen Partnerwechsel als Nachspiel mit meist schlimmen persönlichen Folgen, die bis zum Verlust des Selbstwertgefühles führen und eine tiefe Enttäuschung über das, was "Liebe" ist, hervorrufen können. Für das spätere Leben werden solche Erfahrungen fast immer zu einer schweren Belastung.
Noch etwas möchte ich zu bedenken geben, was Psychotherapeuten, die viele Beratungsgespräche führen, in diesem Zusammenhang erwähnen: Sie sagen, dass insbesondere die ersten intimen Sexualkontakte bei Mann und Frau in der Regel für das ganze Leben prägend wirken und dem einzelnen oft das Leben lang nachgehen. Dies kann später in der Ehe, die möglicherweise nicht mit dem ersten Sexualpartner eingegangen wird, zu einer Schwierigkeit und Belastung werden, sobald im Ehealltag eine gewisse Ernüchterung eintritt. Auch das ist ein Grund zu warten.

6. Vorbereitung auf die Ehe und die Bedeutung vorehelicher Enthaltsamkeit

Die in den letzten Jahren medial direkt und indirekt fast ständig suggerierte Meinung, das Risiko unglücklicher Beziehungen werde geringer, wenn man einander auch im sexuellen Bereich vor der "endgültigen" Ehe kennen lerne, hat den verheißenen Erfolg nicht erbracht. Es mag wahr sein, dass kein Brautpaar mit absoluter Sicherheit behaupten kann, mit ihrer Beziehung werde es zweifelsohne immer gut gehen. Genauso wenig kann jemand, der sich für eine Ganzhingabe an Gott im Sinne des Zölibates entscheidet, von vorne herein mit absoluter Gewissheit sagen, dass er immer treu sein wird. Dies kann nur im Vertrauen auf Gottes Hilfe versprochen werden. Erst am Ende des Lebens wird es feststehen: er/sie war treu. In beiden Fällen - vor einer Ehe oder vor dem Entschluss zu einem zölibatären Leben - ist es freilich von größter Bedeutung, so gut wie möglich zu prüfen, ob für ein Gelingen des ins Auge gefassten Lebensweges die erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind.
Im Zusammenhang mit der Gründung einer Familie ist vor allem das Entstehen einer geistigen, emotionellen, möglichst tief gehenden und ganzheitlichen Verbundenheit wichtig. Sie bildet sich allmählich, ausgehend von einer mit fortschreitendem Sich-Kennenlernen vorhandenen Sympathie. Dieses Kennen lernen betrifft die Eigenschaften, die Gedankenwelt und die Interessen des anderen, aber auch seine Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten. Es wird durch gemeinsame Erlebnisse und vor allem durch das Gespräch miteinander gefördert. Der erotische Bereich wird, wenn sich die Beziehung entwickelt und eine tiefere Verbundenheit entstanden ist bzw. angestrebt wird, beim wahrhaft Liebenden, dem seine Verantwortung bewusst ist, in einer respektvollen, klare Grenzen kennenden Weise allmählich stärker in Erscheinung treten. Eine solche wahre Liebe weiß um die Bedeutung, die Intimität und Integrität des anderen (auch der eigenen) zu wahren, wodurch auch die Freiheit bewahrt und geschützt wird, die für die Entfaltung der Liebe und die später nötige Entscheidung wichtig ist.
In der vorehelichen Enthaltsamkeit geht es um Einüben von Verhaltensweisen (und daran gegenseitige "Überprüfung"), die für die Dauer und Tiefe der Beziehung wesentlich sind. Dazu gehören unter anderen: die Fähigkeit zu Freundschaft, wenn ich Grenzen setze und zu spüren bekomme; die Fähigkeit zur Selbstüberwindung, konkret das Beherrschen sexueller Wünsche und im Weiteren das Beherrschen der Tendenz zur Selbstverwöhnung in den Angeboten der Wohlstandswelt; und besonders wichtig: die Fähigkeit und Bereitschaft, sein Verhalten auch ändern zu können, wenn es die Beziehung erfordert. Es ist notwendig, auf den Partner feinfühlig reagieren zu lernen.
In Hinblick auf einen gemeinsamen Lebensweg und damit die Absicht, die Lebensaufgabe gemeinsam zu bewältigen, sollte eine gründliche Auseinandersetzung mit allen wichtigen Lebensfragen gesucht werden. Es ist klar, dass dafür unter anderem von Seiten jedes Paares Zeitaufwand und das Bewusstsein nötig ist, dass eine solche Ehevorbereitung unbedingt erforderlich ist. Sie sollte dem Paar vor Augen führen, welches das gemeinsame Lebensziel, die gemeinsame, von Gott empfangene "Berufung" ist, was das Ehesakrament bedeutet und welche Zielsetzungen und Anforderungen damit verknüpft sind. Ein besonderes Anliegen dieser Vorbereitung müsste auch darin bestehen, die Quellen zu entdecken, aus denen wir alle, auch das Braut- und das zukünftige Ehepaar, schöpfen können. Christus ist der Weg! Sein Wort vermittelt die wichtigen "Weisungen" für das Zusammenleben, für die Bewältigung des Alltags und der verschiedenen Lebenssituationen. Christus schenkt die Grundlage jenes Vorganges, der in jedem Zusammenleben immer wieder entscheidend ist: Der Vorgang der Versöhnung und der Wunsch nach einem Neubeginn. Christus schenkt uns die Erfahrung, dass Gott uns immer von neuem vergibt und uns bei jedem Neuanfang beisteht. Sein Geist führt uns dazu, auch dem anderen zu vergeben und von ihm, wenn es nötig ist, Vergebung zu erbitten. Auf diese Weise lernen wir, einander, auch uns selbst anzunehmen. Er - Christus - schenkt der Liebe Kraft, die nötige Reife und Tiefe. Er begleitet uns auf unserem Weg mit Seinem Wort und durch die Sakramente, besonders durch das Sakrament der Versöhnung und der Eucharistie. Im Glauben an Christus wird eine klare Entscheidung füreinander möglich und mit Ihm kann jene Verbundenheit eines Paares entstehen und wachsen, die für ein ganzes Leben tragfähig ist.
Bei all dem muss bewusst sein, dass sowohl für die Klärung, ob die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Lebensweg gegeben sind, als auch für die Entfaltung und Reifung der Beziehung die Eigeninitiative des einzelnen bzw. des Paares gefordert ist. Die Sakramente wirken nicht wie Medikamente oder wie ein Waschautomat! Brautleute und Ehepaare sollten sich in Bezug auf ihr Zusammenleben nicht mit Halbheiten oder mit "Leiden", die eigentlich nicht nötig wären, zu schnell abfinden, sondern, wenn es Schwierigkeiten gibt, mit der Hilfe Gottes und dem Einsatz der angebrachten Mittel um eine allmähliche Verbesserung bemüht sein. Außerdem besteht bei jedem Menschen bis ans Lebensende die Notwendigkeit, immer weiter nach Verbesserung zu streben. Alle sind und bleiben wir auf das große Ziel hin immer "unterwegs".

7. Was tun?

Die Jugendlichen möchte ich ermutigen, sich durch nichts und durch niemanden unter Druck setzen zu lassen, auch nicht durch die von manchen verbreitete Meinung: "Das tun alle". Erstens ist dies nicht wahr, dass "alle das tun", zweitens kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob etwas von vielen oder wenigen getan wird. Wichtig ist vielmehr, ob unsere Verhaltensweise vor Gott richtig und für die eigene Entfaltung sowie für die der anderen gut ist. Habt den Mut, gerade auch in Bezug auf das Verhalten im sexuellen Bereich als Christen den eigenen Weg zu gehen, der ein Weg zur Freude, zum Frieden und vor allem zur wahren (auch menschlichen, ehelichen) Liebe ist! Nützt die Zeit, um Euch auch im Religiösen und den tieferen Belangen Eures Lebens zu bilden und Eure Interessen zu entwickeln. Seid kontaktfreudig, natürlich und ungezwungen, auch im Umgang mit dem anderen Geschlecht, aber lernt und übt es von Anfang an, dabei verbunden mit einer großen Achtung vor der Person, gewisse Grenzen einzuhalten. Seid Euch Eurer Verantwortung für Euch selbst und die anderen bewusst! Wenn Ihr das erste Mal eine Verliebtheit in Euch spürt, wird dies noch wichtiger sein. Es ist notwendig zu lernen, das natürliche Bedürfnis, dem inneren Empfinden zärtlich Ausdruck zu verleihen, mit der hohen Verantwortung zu vereinbaren, die Euch Gott geschenkt hat. Es muss Euer guter Wunsch sein, den Schatz, den wir alle in zerbrechlichen Gefäßen tragen, bei anderen und bei Euch selbst unversehrt zu bewahren.
Verkehrtes Handeln im Bereich der Sexualität ist häufig persönlich tief greifender und schicksalsträchtiger als andere Fehler. - Doch Gott verzeiht jeden Fehler, der geschieht, sobald wir ihn einsehen und bereuen. Wer ist fehlerfrei? Uns allen passiert oft, trotz bester Vorsätze, immer wieder dieselbe verkehrte Handlung. Vergessen wir nicht, dass Christus Hilfe gebracht hat, dass wir das Sakrament der Versöhnung empfangen und deshalb immer wieder neu anfangen können! Das ist keine Einladung, sich gehen zu lassen. Es ist die Einladung, den Kampf um den guten Menschen in uns aufzunehmen.
Eltern und Erzieher möchte ich ermutigen, ihre Kinder von Jugend an, dem Alter entsprechend in die Geheimnisse des Lebens und der Liebe einzuführen, in ihnen aber auch von klein auf die Fähigkeit zur Selbstüberwindung, zur Einordnung in die Familie und zur Mithilfe zu fördern, damit sie für jene große Liebe vorbereitet werden, die nicht nur das Sexuelle, sondern die Person als Ganzes betrifft und das Kostbarste in unserem Leben darstellt. Es gibt gute Schriften, die bei diesem Bemühen eine Hilfe sein können. Sucht aber auch den Gedanken - und Erfahrungsaustausch mit anderen Ehepaaren, die Euch bei dieser wichtigen Aufgabe beistehen.

8. Das Sakrament der Ehe ist für das Gelingen wichtig!

Schließlich möchte ich noch ein Wort für jene jungen Paare beifügen, die ernsthaft daran denken, gemeinsam den Lebensweg zu gehen, aber aus irgendeinem Grund noch einige Zeit bis zur Hochzeit warten möchten.
Auch Euch möchte ich ermutigen, bis zur Hochzeit mit der sexuellen Intimbeziehung zu warten. Es festigt Eure Treue und lässt Euch reifer werden. Falls Ihr bereits zusammenlebt, wäre die Frage, ob Ihr nicht heiraten solltet, wenn Ihr Euch gut genug kennt und nach eingehender, auch vernunftmäßiger Prüfung Eurer Voraussetzungen der Entschluss zu einem gemeinsamen Lebensweg in Euch gereift ist.
Der Trauschein ist nicht bloß eine äußere, formelle Angelegenheit, die man auch später nachholen kann. Die Trauung ist, richtig verstanden, unersetzbare Zusicherung Eurer gegenseitigen Liebe, die im Dokument festgehalten wird. Das öffentliche, vor Gott und vor Zeugen gegebene Jawort ist ein Schutz Eurer Beziehung, eine Grundlage, die Eurem Einssein Halt gibt. Christus ist in der kirchlichen Trauung der wichtigste Halt. Er schenkt Eurem Streben, gemeinsam lieben zu lernen, Ausrichtung, Tiefe und Klarheit. Er ist mit Seiner sakramentalen Gegenwart durch das Bußsakrament, die Eucharistie und das Ehesakrament zugleich die tiefe und letzte Grundlage Eurer Treue trotz persönlicher Begrenztheit. Er wird Euch - wenn ihr Ihn nicht aus Eurer Beziehung ausschließt - immer begleiten und beistehen. Dies eröffnet ungeahnte Dimensionen, zeigt Euch Eure spezifische Berufung, die Euch durch das Ehesakrament zuteil wird, und vermittelt Euch die nötige Hilfe von Gott, sodass auch in unserer Zeit Treue möglich wird.
Freilich ist Eurerseits Einsatz nötig: Aufwand an Zeit für eine geziemende Vorbereitung, echte Beschäftigung mit den Inhalten, geistlicher Austausch mit anderen Paaren und dem Seelsorger und vor allem Bereitschaft, auf einander einzugehen, miteinander zu lernen und einander zu fördern.
Aber, wenn Ihr der Meinung seid: "Wir sind noch nicht ganz sicher? ", wenn unklar ist, ob die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Lebensweg gegeben sind, dann rate ich zu einer ernsthaften Klärung. Unter solchen Umständen ist es meistens am besten, sich zu trennen, in sich zu gehen, die Zweifel und Sorgen im Gebet vor Gott zu tragen, eventuell getrennt oder gemeinsam eine geeignete Beratung bei einem erfahrenen Seelsorger zu suchen und in aller Freiheit nochmals die Frage zu prüfen. Ihr solltet nur dann wieder zusammenziehen, wenn vorher nach entsprechender Vorbereitung die kirchliche Trauung mit ehrlicher Überzeugung und im Wissen, was sie bedeutet, stattfinden kann.
Auch Euch gilt: Wer Gott anruft, den hört Er. Er lässt jene, die Ihn suchen, niemals im Stich, auch wenn wir manchmal zuerst Geduld und Demut lernen müssen, um Seine Gnade zu empfangen.


Leider ist diesmal der Brief etwas lange geworden. Es ist mir bewusst, dass er trotzdem unvollständig und sehr unvollkommen ist. Vielleicht vermittelt er aber doch diesen oder jenen Anstoß zum Nachdenken und Umdenken. Möge der Hl. Geist jedem Leser die Eingebungen gewähren, die für ihn die richtigen sind!

+ Klaus Küng

 

Lektüren zur Vertiefung

Päpstl. Rat für die Familie (Libreria Editrice Vaticano): "Menschliche Sexualität: Wahrheit und Bedeutung"
Gerhard Hauser (Editions Trobisch): "Sehnsucht nach Zärtlichkeit"
Bernhard Häring C.Ss.R. (Theologie der Gegenwart 15 (1972) 63-76): "Voreheliche geschlechtliche Vereinigung?"
Joachim Illies (Vellmar-Kassel): "Auf dem Wege. Briefe an Thomas. Probleme des Jugendalters."
Andreas Laun (Franz von Sales Verlag): "Liebe und Partnerschaft aus der Sicht der katholischen Kirche"
André Léonard (Parvis Verlag): "Jesus und dein Leib"
Christa Meves (Kleinschrift Maria Roggendorf): "Sexuelle Freiheit und neue Moral. Wir wollen warten."
Reinhold Ortner (Steyler Verlag): "Liebe - Ehe - Sexualität" und "Sexuelle Beziehungen vor der Ehe?"
Johannes B. Torelló (Verlag Kultur in die Familie): "Wer ist wer in der Familie"
Walter Trobisch (Editions Trobisch): "Bis zum letzten gehen"